Baukultur gestern und heute

Gastbeitrag von Reiner Nagel, Vorsitzender des Vorstandes der Bundesstiftung Baukultur

Nimmt man die letzten drei Jahrzehnte des Baugeschehens speziell in Ostdeutschland zum Anlass für eine Thematisierung von Baukultur gestern und heute, so fällt zunächst das große Bauvolumen ins Auge, das bewältigt wurde: Infrastruktur- und Ingenieurbauwerke, Industrieansiedlungen und Gewerbebauten, aber vor allem Projekte des Stadtaus- und -umbaus und der Denkmalpflege haben Ostdeutschland nicht nur strukturell verändert, sondern häufig baukulturell aufgewertet und auf dem Weg zu lebenswerten, zukunftsgerichteten Städten und Gemeinden vorangebracht. Als Leuchttürme sprechen hierfür einprägsame Bilder zeitgenössischer Architektur, wie die Neue Messe Leipzig, die gläserne Fabrik in Dresden, das Umweltbundesamt in Dessau, der neue Hauptbahnhof in Berlin oder das Hans-Otto-Theater in Potsdam.

Die wohl nachhaltigste und größte Leistung der ostdeutschen Bauindustrie war es aber, sich abgesehen von dem Neubau mit großer Energie und fachlicher Kompetenz auch der Herausforderung der Bestandssanierung und -erneuerung gestellt zu haben. Neben der Sanierung von Baudenkmalen, wie der preisgekrönten Erweiterung und Sanierung des Schlosses in der Lutherstadt Wittenberg, betraf dies vor allen Dingen die Erneuerung großer, in DDR-Zeiten erhaltener Gründerzeitbestände, zum Beispiel in Leipzig oder Halle. Natürlich waren diese Maßnahmen auch von politischen Entscheidungen und planerischen Strategien getragen – dass sie erfolgreich umgesetzt werden konnten war die Leistung der ostdeutschen Bauindustrie. Das bilanzierte Arnold Bartetsky schon vor einigen Jahren in seinem Buch „Die gerettete Stadt: Architektur und Stadtentwicklung in Leipzig seit 1989 – Erfolge, Risiken, Verluste“. Das Buch liest sich wie ein Krimi und zeigt, dass der heute weitgehend als Erfolg zu bewertende Erhalt und die Erneuerung vieler ostdeutscher Innenstädte nicht selbstverständlich war. Aus Sicht der Baukultur ist beides ein Glücksfall. Ohne das historische Stadtbild von Quedlinburg, Görlitz oder Brandenburg an der Havel wäre das baukulturelle Deutschland heute sehr viel ärmer.

Dieser Wunsch nach der Rückgewinnung der eigenen Stadtidentität als wichtiger baukultureller Kristallisationspunkt hat bei der Frauenkirche Dresden in besonderer Weise Gestalt angenommen. Auch wenn sie heute über das Thema Stadtreparatur hinaus oft als Referenz für eine neue Welle von Rekonstruktionen genutzt wird, ist die Frauenkirche eher ein nach den verheerenden Kriegsschäden zeitlich verzögerter, hochwertiger Wiederaufbau. Dabei ist sie nicht nur von großem Wert für die Rückgewinnung des Elbpanoramas, sondern ein Beweis dafür, zu welch hoher, kollektiver Emotionalität Baukultur in der gesamten Stadtgesellschaft und darüber hinaus Anlass bieten kann. Insofern ist es nur konsequent, dass wenige hundert Meter von der Frauenkirche entfernt auch der nachkriegsmoderne Kulturpalast eine ähnlich reflektierte Erneuerung erfahren hat. Statt Abriss ein sehr tragfähiger Umbau – das ist heute das Zeichen der Zeit und eine Entwicklung, die in den vergangenen 30 Jahren kontinuierlich Unterstützung gefunden hat.

Dass sich Baukultur nicht nur auf Hochbauten, sondern auch auf Infrastruktur und Ingenieurbaukunst bezieht, muss an dieser Stelle nicht betont werden. Das betrifft zum Beispiel Vorhaben wie das Wasserstraßenkreuz in Magdeburg, aber auch den Erhalt des alten Schiffshebewerkes Niederfinow als historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst oder den aktuellen U-Bahn-Bau in Berlin, der bauindustriell eine Meisterleistung ist.

Unsere gebauten Lebensräume und die damit verbundene Baukultur sind also umfassend. Sie haben eine unmittelbare Wirkung auf unsere Lebensqualität und die wirtschaftliche Entwicklung von Städten und Gemeinden. Der Begriff Baukultur ist hierbei als die Summe aller menschlichen Leistungen zu verstehen, die Umwelt aktiv zu gestalten. Heute, im sogenannten Anthropozän, sind wir schließlich nahezu ausnahmslos von menschengemachten Landschaften, Siedlungen und Bauwerken umgeben – diese beeinflussen unser Wohlbefinden und unseren positiven oder negativen Blick auf die Welt. Sie prägen uns durch ein identitätsstiftendes Stadt- oder Ortsbild und einen öffentlichen Raum, in dem man sich gerne aufhält.

Der Bestand als zentrale Aufgabe

Lag in den Jahren nach der Wende die Hauptaufgabe für die Baubranche im allgemeinen Aufbauprozess und einem hochbaulichen sowie infrastrukturellen Nachholbedarf, wird in den kommenden Jahrzehnten eine große Relevanz im Umgang mit dem Bestand liegen. Zwei Drittel der Bauleistungen hierzulande werden bereits jetzt in den Bestand und dessen Sanierung, Umbau oder Erweiterung investiert, mit zunehmender Tendenz. Auf jeden Bundesbürger kommen schon heute rund 360 Tonnen verbautes Material in Gebäuden und Infrastrukturen. Das entspricht dem Gewicht zweier Jumbojets oder eines vollbesetzten ICE, wohlgemerkt pro Einwohner! An diesem Bild wird die Größe der Aufgabe, aber auch die Verantwortung für die bestehende gebaute Umwelt deutlich. Denn Bestandsarchitekturen und -infrastrukturen sind nicht nur kulturell bedeutend: Sie verfügen über soziale, ökologische und ökonomische Werte, in denen der Schlüssel für eine zukunftsweisende Baukultur liegt. In ihrem Um- und Ausbau liegen große Potenziale für gestalterische und strukturelle Verbesserungen. Um einer Funktion dauerhaft gerecht zu werden, bedarf es der Unterhaltung und Pflege, aber auch notwendiger Sanierungen und Weiterentwicklungen. Im Zuge erforderlicher Maßnahmen sollte dann auch immer die Option einer gestalterischen Verbesserung mitgedacht werden.

Klimaziele im Fokus

Eine Fokussierung auf den Bestand und dessen Optimierung sichert materielle und immaterielle baukulturelle Werte. Sie ist aber auch notwendig, um die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung zu erreichen.

Weltweit waren die Jahre von 2015 bis 2019 die fünf wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Während Klimaschwankungen früher regional und zu unterschiedlichen Zeiten auftraten, steigen die Temperaturen zurzeit überall auf der Welt und zur selben Zeit. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 sieht weltweite Anstrengungen vor, um die Erwärmung auf 1,5 °C zu beschränken. Dem Bauwesen kommt dabei eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung von Ressourceneffizienz und Klimaschutz zu. In Deutschland beansprucht die gebaute Umwelt jährlich mehr als 50 Prozent der verbrauchten Ressourcen, produziert über 50 Prozent des gesamten Abfalls und gehört gleichzeitig zu den energieintensiven Branchen. Die Handlungsnotwendigkeiten die sich daraus ergeben, bleiben eine große Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte.

Architektur und Städtebau können entscheidend dazu beitragen, den Klimawandel zu bewältigen. Dazu gilt es, Stoffkreisläufe in den Mittelpunkt zu stellen und eine neue Umbaukultur zu etablieren, denn ein großer Teil der grauen Energie steckt im Rohbau. Das sollte bei der Frage Abriss oder Erhalt immer bedacht werden. Die Klimaziele können nicht erreicht werden, wenn weltweit weiterhin so energie- und abfallintensiv gebaut wird wie bisher.

Nachwuchs für die Baukultur

Es gibt also viel zu tun – und noch sind trotz Corona-Krise die Auftragsbücher der Bauwirtschaft gut gefüllt: Ihr Auslastungsgrad ist immer noch der höchste seit der Wiedervereinigung. Als zentrales Hemmnis bei der Umsetzung einiger Baumaßnahmen wird der Fachkräftemangel gesehen. In einer Umfrage des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie von 2018 wurde er viermal häufiger als größtes Problem genannt als noch 2010.

Eine Ursache des Fachkräftemangels ist womöglich das zu geringe Ansehen der Ausbildung im Handwerk. Als vor 100 Jahren das Bauhaus gegründet wurde, war eine Kernidee, Kunst und Handwerk in einer Bildungsstätte zusammenzuführen. Das hat Architektur, Design und Kunst des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt, während heute eine Trennung von Gestaltung und Handwerk Alltag ist. Handwerkern ohne Abitur oder Fachhochschulreife bleibt so der Zugang zu gestalterischer und künstlerischer Bildung verwehrt. Damit einher geht ein Reputationsverlust der handwerklichen Ausbildung, dem es entgegenzuwirken gilt. Dass Handwerkskammern in ganz Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre wieder Akademien für Gestaltung im Handwerk gründen, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es gilt aber auch, auf breiter Ebene für den Bauberuf zu begeistern.

Hier leistet der Bauindustrieverband Ost mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag für die Nachwuchsförderung – zum Beispiel durch den Preis der Sächsischen Bauindustrie, als Treiber der dringend notwendigen Digitalisierung in der Bauwirtschaft oder als Netzwerkplattform aller am Bau Beteiligten.

Denn Baukultur entsteht erst dann, wenn interdisziplinär zusammengearbeitet und dadurch eine ganzheitliche und integrale Planung erreicht und werkbezogen umgesetzt wird. Der Kreislauf von Entwickeln über Planen, Bauen und Betreiben bis zum erneuten Entwickeln, angepasst an neue Bedarfe, muss von allen Beteiligten auf Augenhöhe mitgestaltet werden.

Einzelinteressen sollten in den Hintergrund rücken und im Sinne der besten Lösung gemeinschaftlich erarbeitet werden. Dazu muss das „Wir“ am Bau, das gestern eine Selbstverständlichkeit war, auch heute wieder mehr gesehen und gelebt werden: „Wir Bauleute kriegen das gut hin“ könnte eine Grundstimmung sein, von der auch und gerade die Baukultur profitiert. Denn erst wenn sich zu wirtschaftlichem Erfolg, ökologischer Nachhaltigkeit und gesellschaftlichem Nutzen eine überzeugende Gestaltung gesellt, entsteht etwas wirklich Wertvolles für die Gesellschaft. Wenn dann noch auf eine entsprechende Prozessqualität bei der Entstehung und auf einen werterhaltenden, klugen Betrieb über den Lebenszyklus der Bauwerke hinweg geachtet wird, können wir wirklich von Baukultur sprechen.

Schon vor 30 Jahren war es das Baugewerbe, das nach der Wende eine zentrale Rolle bei der Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft spielte. Und auch bei den aktuellen Herausforderungen, wie die durch die Covid19-Pandemie zu erwartende Konjunkturkrise, kann die Planungs- und Bauwirtschaft einen wesentlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrag leisten. Die Bundesstiftung Baukultur wünscht dem Bauindustrieverband Ost weiterhin viel Erfolg dabei, die Baubranche zu stärken und im Sinne der anstehenden Aufgaben für die Bauwirtschaft und eine hochwertige Baukultur wirksam zu werden.

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