Der Mindestlohn in der ostdeutschen Bauindustrie – Erfahrungen und Perspektiven

Gastbeitrag von Prof. em. Dr. Joachim Möller, Ehemaliger Direktor des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)

Die Einführung des Mindestlohns im deutschen Baugewerbe

Der Durchsetzung einer verbindlichen Lohnuntergrenze in einem wichtigen Wirtschaftssektor war ein Novum in der deutschen Arbeitsmarktpolitik der Nachkriegszeit. Das Bauhauptgewerbe nahm somit eine Vorreiterfunktion bei der Regelung wahr, die danach in entsprechend angepasster Form auf eine Reihe anderer Branchen ausgeweitet wurde. Die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland erfolgte erst 18 Jahre später zum 1. Januar 2015.

1996 war die Posted Workers Directive von der Europäischen Union beschlossen worden, das die Rechte von Arbeitnehmern regelt, die außerhalb ihres Heimatlandes eingesetzt werden und zunächst nur für den Bausektor galt. Das deutsche Arbeitnehmerentsendegesetz (AentG) setzt diese Direktive um. Das Gesetz verlangt, dass jedes ausländische Unternehmen aus einem Land der Europäischen Union oder Drittländern , die Arbeitnehmer vorübergehend aus ihrem Heimatland nach Deutschland entsenden, die deutschen Arbeitsmarktregularien einhält, gegebenenfalls also auch die geltenden Lohnuntergrenzen. Vor der Einführung des Arbeitnehmerentsendegesetzes wurden entsandte Arbeitnehmer nach den Regelungen ihres Heimatlandes entlohnt. Nun aber konnte sichergestellt werden, dass in Deutschland geltende Bestimmungen für alle im deutschen Bauhauptgewerbe beschäftigten Arbeiter bindend wurden, unabhängig davon, ob sie von in- oder ausländischen Betrieben eingesetzt wurden. Allerdings bestand bis dato hierzulande keine Mindestlohnregelung. Deshalb begannen Gewerkschaften und Arbeitgeberseite zügig, über eine neue Niedriglohngruppe im Arbeitsvertrag für die Baubranche zu verhandeln. Die erzielte Übereinkunft – Arbeitnehmer in Ostdeutschland sollten ab Januar 1997 pro Stunde mindestens 15,64 DM (8,00 Euro), Arbeitnehmer in Westdeutschland 17,00 DM (8,69 Euro) erhalten – wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) umgehend für allgemeinverbindlich erklärt und erhielt somit Gültigkeit auch für die nicht organisierten Betriebe.

Um eine bessere Differenzierung für qualifizierte Arbeitskräfte zu erreichen, wurde zum 1. September 2003 zwischen den Tarifparteien die Einführung einer höher angesetzten Lohnuntergrenze (Mindestlohn II) für Fachkräfte beschlossen. Diese wurde allerdings in Ostdeutschland zum 01. September 2009 wieder abgeschafft. Für Auszubildende gelten die Mindestlohnbestimmungen nicht.

Die Motive für die Einführung des Mindestlohns

Die Einführung von Mindestlöhnen im Bauhauptgewerbe zum 1. Januar 1997 fällt mitten in eine schwere Anpassungskrise. Nach einer Phase stürmischen Wachstums, die insbesondere in Ostdeutschland unmittelbar nach der Wiedervereinigung einsetzte, kam es ab 1995 zu einem scharfen Niedergang. Diese schwere Rezession hielt bis etwa Mitte des ersten Jahrzehnts nach der Jahrtausendwende an, bevor es zunächst zu einer Stabilisierung und in den Zehnerjahren schließlich zu einer erneuten Wachstumsphase kam. Die Einführung einer Lohnuntergrenze in einer Zeit krisenhafter Entwicklung wurde sowohl von der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite mehrheitlich unterstützt. Während für die Beschäftigten und die Gewerkschaften die Einkommenssicherung im Vordergrund stand, ging es der Arbeitgeberseite in erster Linie darum, dem ruinösen Wettbewerb – insbesondere durch Firmen aus dem Ausland – Einhalt zu gebieten. In der Krise bestand die reale Gefahr unfairer Konkurrenz. Dazu kommt es, wenn Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht mehr über Steigerung von Effizienz und Qualität ausgetragen wird, sondern über ein Absenken der Löhne. Die „schlechte“ Firma – also die mit geringer Bezahlung und/oder schlechten Arbeitsbedingungen – setzt sich dann womöglich gegen die „gute“ Firma durch, die ihre Beschäftigten fair bezahlt und behandelt. Damit bleiben womöglich leistungsstärkere Firmen auf der Stecke, der Wettbewerb wird pervertiert. Mindestlohnregelungen – sofern ihre Durchsetzung auch ausreichend garantiert wird – können solche Abwärtsspiralen verhindern. Hinzu kommt von den Befürwortern des Mindestlohns ein Argument der Fachkräftesicherung. Eine angemessene Bezahlung erleichtert es nicht nur, Fachkräfte in der Branche zu halten, sondern auch Nachwuchs zu gewinnen.

Die Debatte pro und kontra Mindestlohn

Gegner eines Mindestlohns argumentieren hingegen, dass der Arbeitsmarkt ähnlich wie ein reiner Wettbewerbsmarkt funktioniert. Dann ist jeder Eingriff in die Lohnbildung im besten Fall wirkungslos – nämlich dann, wenn die Lohnuntergrenze unter dem gleichgewichtigen Marktlohn liegt – aber beschäftigungsschädlich , wenn er bindet. Auch wenn diese Position immer noch Befürworter findet, tendiert die neuere Arbeitsmarktforschung mehrheitlich dazu, dass das Paradigma des reinen Wettbewerbmarktes für den Arbeitsmarkt nicht taugt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Insbesondere aber gilt, dass der Arbeitsmarkt keineswegs ein vollkommener Markt ist. Die Information der Handelnden, seien es Arbeitgeber, Beschäftigte oder Arbeitssuchende, ist ebenso wenig vollkommen wie die Mobilität. In einer solchen Situation kann sich ein Lohnniveau einstellen, dass geringer ist als das sozial wünschbare. Die Anhebung durch einen Mindestlohn führt dann keineswegs zwingend zu Jobverlusten, sondern im Gegenteil womöglich zu einer schnelleren Besetzung offener Stellen.

Die rote Linie und die Rolle empirischer Forschung

Konsens besteht allerdings auch darüber, dass ein Mindestlohn in überzogener Höhe Beschäftigungsmöglichkeiten zerstört und somit eine schädliche Wirkung entfaltet. Die Kunst besteht somit darin, eine angemessene Höhe für den Mindestlohn zu finden. Hierfür kann die Wissenschaft keine eisernen Regeln vorgeben. Mindestlohnregelungen unterliegen in gewisser Weise einer Logik von Versuch und Irrtum. Wo die rote Linie liegt, ab der eine Lohnuntergrenze schädlich wirkt, lässt sich nicht a priori bestimmen. Die moderne empirische Forschung ist sehr wohl in der Lage, die Wirkung eingeführter Mindestlöhne im Nachhinein detailliert zu erfassen, sofern entsprechende Daten verfügbar sind. Die durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales beauftragte umfangreiche Evaluationsstudie der Mindestlöhne in der Bauindustrie (siehe IAB, RWI und ISG 2011) belegt dies nachdrücklich.

Grundsätzlich sollte ein Mindestlohn eine Lohnverteilung nicht so stark stauchen, dass eine Differenzierung im Arbeitnehmerentgelt zu sehr eingeschränkt wird. Bedenklich ist es, wenn ein Mindestlohn zum „Normallohn“ wird, den die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer/innen in einem Marktsegment erhält. Die Differenzierung der Entgelte sollte auch eine Differenzierung von Leistung widerspiegeln. Umfragen unter Arbeitnehmern haben gerade in Ostdeutschland in manchen Bereichen ergeben, dass Unmut über mangelnde Differenzierung besteht. So entsprach etwa im Dachdeckergewerbe der Mindestlohn zugleich dem Medianlohn, d.h. mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer erhielten dort den Mindestlohn. Hier ergaben sich auch Hinweise auf negative Beschäftigungswirkungen.

Die Entwicklung des Mindestlohns über die Zeit

Die Entwicklung der Höhe des Mindestlohns (Lohngruppe 1) in der Bauindustrie zeigt Abbildung 1. Der Mindestlohn im ostdeutschen Bauhauptgewerbe lag bei der Einführung 1997 und insbesondere zwischen 1999 und 2010 deutlich niedriger als der in den alten Bundesländern. Seit 2010 stieg er aber deutlich schneller als der westdeutsche. Zu Beginn des Jahres 2017 wurde dann das westdeutsche Niveau erreicht. Seit diesem Zeitpunkt entwickeln sich die Mindestlöhne des Baugewerbes in den beiden Landesteilen synchron. Der Mindestlohn muss sich keineswegs monoton steigern. Bereits im Einführungsjahr mehrten sich die Stimmen, dass der Mindestlohn angesichts der schweren Krise der Bauwirtschaft für viele Betriebe nicht tragbar war. Als Reaktion darauf wurde der Mindestlohn dann bereits zum 01.September des Jahres 1997 in Westdeutschland auf 16,00 DM (8,18 Euro) und in Ostdeutschland auf 15,14 DM (7,74 Euro) gesenkt. Auch im September 2005 erfolgte eine Anpassung nach unten. Weiterhin ist ersichtlich, dass der Mindestlohn im Baugewerbe deutlich über dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn liegt, der in Deutschland zum 1. Januar 2015 eingeführt wurde.

Die Auswirkungen auf die Lohnstruktur

Die Mindestlohnregelungen haben die Entlohnungsstruktur in der ostdeutschen Bauindustrie spürbar verändert. Abbildung 2 zeigt die Verteilung der Bruttoverdienste je Kalendertag in den Jahren 1996 und 1997, also unmittelbar vor und nach der Einführung des Mindestlohns. Sie belegt, dass die Mindestlöhne in Ostdeutschland in der Anfangsphase erheblichen „Biss“ hatten und somit in der Verteilung der Verdienste deutliche Spuren hinterlassen haben. Die Pfeile in der Abbildung verdeutlichen, dass die Häufigkeit einer Bezahlung im unteren (linken) Bereich der Verteilung sichtbar abgenommen hat, während sich deutlich mehr Masse um und knapp über dem Bereich findet, der etwa den Verdiensten bei Mindestlohn und normaler Arbeitszeit entspricht. Genau dieses Muster ist bei einem bindenden Mindestlohn zu erwarten. Im Ergebnis wird die Verteilung im linken Bereich steiler und insgesamt komprimierter. In der westdeutschen Bauindustrie ist ein vergleichbar starker Effekt der Mindestlohneinführung nicht nachweisbar.

Die Unterschiedlichkeit der beiden Landesteile wird auch in der umfangreichen Evaluationsstudie über die Auswirkungen des Mindestlohns in der Bauwirtschaft aus dem Jahr 2011 bestätigt. Dieser Studie zufolge lag die Betroffenheit der Beschäftigten durch die Mindestlohnregelungen in den neuen Bundesländern mit knapp 24 Prozent bei der Einführung des Mindestlohns deutlich höher als in den alten Bundesländern mit unter vier Prozent. (IAB-RWI-ISG 2011, S.246)

Der Mindestlohn aus Sicht der Beschäftigten

In der genannten Evaluationsstudie wurde auch eine Befragung von Beschäftigten der Branche durchgeführt. Das allgemeine Stimmungsbild bei der Beschäftigtenbefragung zeigt, dass ca. drei Viertel der Befragten in Westdeutschland und ca. 83 Prozent in Ostdeutschland den Mindestlohn für das Baugewerbe als wichtig erachten (siehe Abbildung 3). Zugleich wird deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten in Deutschland den Mindestlohn als für zu niedrig erachtet. In den neuen Ländern ist diese Einschätzung besonders ausgeprägt. Hier vertreten nur ca. 10 Prozent der Befragten eine entgegengesetzte Meinung.

Die Beschäftigungswirkungen

Wie beschrieben fällt die Einführung des Mindestlohns in eine Phase einer ausgeprägten Rezession mit starkem Beschäftigungsabbau. Dieser Beschäftigungsabbau setzt schon deutlich vor der Einführung der Lohnuntergrenze ein. Bei der Untersuchung der Wirkung des Mindestlohns auf die Beschäftigung muss also fairerweise gefragt werden, ob durch ihn ein zusätzlicher Jobverlust verursacht wurde. Das Ergebnis der umfangreichen Evaluationsstudie, in der verschiedene Methoden verwendet werden, kommt zu dem Ergebnis, dass die Einführung der Lohnuntergrenze beschäftigungsneutral war. „Die Mindestlohneinführung sowie die einzelnen Erhöhungen zeigen keinen messbaren zusätzlichen Effekt auf das Beschäftigungsniveau, d.h. die Zahl der Arbeiter, weder in Ost- noch in Westdeutschland.“ (IAB-RWI-ISG 2011, S.436). Allerdings ergeben sich in Ostdeutschland gewisse Hinweise auf eine Verringerung der Einstellungswahrscheinlichkeit insbesondere von Geringqualifizierten.

Resumée

Der Mindestlohn im Baugewerbe hat sich insgesamt bewährt. Herauszustellen ist die Verhinderung von ruinösem Wettbewerb gerade in Zeiten der Krise sowie die Einkommenssicherung für die Beschäftigten. Die Akzeptanz des Mindestlohns ist deshalb hoch. Der bei den Beschäftigten ausgeprägte Wunsch nach einer weiteren Erhöhung des Mindestlohns stößt aber auf Widerstände besonders in den Regionen, in denen generell das Lohnniveau niedrig ist. Bei der Weiterentwicklung des Mindestlohns sollten die Sozialpartner das Augenmaß bewahren, das sie in der Vergangenheit gezeigt haben.

Literatur:
IAB, RWI, ISG (2011), Evaluation bestehender gesetzlicher Mindestlohnregelungen – Branche: Bauhauptgewerbe, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, Forschungsauftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), im Internet abrufbar unter: doku.iab.de › evaluation-mindestlohn-bauhauptgewerbe.

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